Betreff
Bedarfsplan für den Rettungsdienst im Landkreis Nienburg/Weser
Vorlage
2014/111
Aktenzeichen
175/141-20/2
Art
Beschlussvorlage
Untergeordnete Vorlage(n)

1.     Der als Anlage beigefügte fortgeschriebene Bedarfsplan wird beschlossen.

2.     Die vorgeschlagenen Sofortmaßnahmen  im Vorgriff auf die Umsetzung des Bedarfsplanes werden beschlossen.

3.     Die Modalitäten des Vergabeverfahrens für die Umsetzung des Bedarfsplanes werden unter Hinzuziehung fachanwaltlicher Beratung geklärt und nach Beteiligung des ABR vom Kreisausschuss beschlossen.

 


Sachverhalt

 

1. Neufassung des Bedarfsplanes

 

Im Rettungsdienstbereich Landkreis Nienburg/Weser wird der Rettungsdienst in Form des so genannten Verbundsystems durchgeführt. Dies bedeutet, dass mit dem Rettungswagen (RTW) sowohl Notfalleinsätze als auch Krankentransporte bedient werden. Die notärztliche Versorgung findet im Rendezvous-System statt.

 

Der zurzeit noch gültige Bedarfsplan, Stand Juli 2011, basiert im Wesentlichen auf dem Gutachten der Fa. Forplan Schmiedel aus 2005 zur Ermittlung der Rettungsmittelvorhaltung im Rettungsdienstbereich Landkreis Nienburg/Weser einschließlich eines Teils der Samtgemeinde Bruchhausen-Vilsen, Landkreis Diepholz.

 

Aufgrund der gestiegenen Fallzahlen, der Änderung der Krankenhausstruktur im Kreisgebiet (Geriatrie in Stolzenau), des Klinikumstandortes Minden, der Einrichtung einer Integrierten Regionalleitstelle Schaumburg Nienburg und der Veränderung der Zusammenarbeit mit dem Landkreis Diepholz wurde im August 2013 die Fa. Orgakom, Analyse + BeratungsGmbH beauftragt, eine Organisationsuntersuchung des Rettungsdienstes im Landkreis Nienburg/Weser durchzuführen.

 

Dieses Gutachten ist Grundlage dieses Bedarfsplanes.

 

 

a) Notfallrettung:

 

Standortstruktur

Nach dem Niedersächsischen Rettungsdienstgesetz hat der Rettungsdienst als medizinische, funktionale und wirtschaftliche Einheit die flächendeckende und bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung sicher zu stellen.

 

Zur Sicherstellung des Rettungsdienstes sollen benachbarte kommunale Träger zusammenarbeiten, wenn dies der Erfüllung des Sicherstellungsauftrages dient.

 

Nach der Verordnung über die Bemessung des Bedarfs an Einrichtungen des Rettungsdienstes ist die Planung der Notfallversorgung unter Beachtung der örtlichen Verhältnisse darauf auszurichten, dass jeder an einer öffentlichen Straße gelegene Einsatzort innerhalb einer vorgegeben Eintreffzeit erreicht werden kann. Die Eintreffzeit soll in 95% der in einem Jahr im Rettungsdienstbereich zu erwartenden Notfalleinsätze 15 Minuten nicht übersteigen. Die Eintreffzeit im Rettungsdienstbereich des Landkreises Nienburg konnte im Untersuchungszeitraum nur in rd. 90% der Fälle eingehalten werden.

 

Inwieweit Rettungsdienstbereiche tatsächlich innerhalb der vorgegebenen Hilfsfrist planerisch abgedeckt werden können, hat der Gutachter mit Hilfe einer Fahr- und Eintreffsimulation (in Verbindung mit der Hilfsfristanalyse) untersucht. Grundlage für die Zeitvorgaben sind dabei die aktuellen Leitstellendaten mit ihrer Vielzahl genau erfasster Fahrzeiten zu den unterschiedlichen Einsatzorten.


 

Für die Notfallrettung wurde festgestellt, dass eine flächendeckende hinreichend schnelle planerische Erreichbarkeit nahezu im gesamten Kreisgebiet sichergestellt ist. Die bisher bestehenden Rettungswachenstandorte Hoya, Nienburg, Rehburg, Steyerberg und Warmsen werden daher weiterhin als bedarfsgerecht festgeschrieben. Ausnahmen bilden Teile einzelner Ortschaften (Diepenau, Pennigsehl, Wietzen, Rodewald und Steimbke).

 

Bei den im Bereich Diepenau planerisch nicht erreichbaren Bereichen handelt es sich um Gebiete mit sehr geringen Einwohner- bzw. Einsatzzahlen. Der Gesetzgeber verlangt zwar, dass jeder an einer öffentlichen Straße gelegene Einsatzort innerhalb einer Eintreffzeit von 15 Minuten erreichbar sein soll, jedoch gilt auch hierbei der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es nicht vertretbar dort einen eignen Standort zu etablieren oder einen sonst geeignet gelegenen zu verschieben. Nach Möglichkeit und Verfügbarkeit sollte hier auf die Unterstützung der Luftrettung zurückgegriffen werden.

 

Die Hilfsfristüberschreitungen in den Gemeinden Marklohe, Wietzen und Pennigsehl sind überwiegend durch die lange Fahrdauer verursacht. Aufgrund der örtlichen Verteilung der Hilfsfristüberschreitungen empfiehlt es sich, einen RTW aus der Rettungswache in Nienburg in Marklohe vorzuhalten. Von diesem Standort aus ist gegenüber der gegenwärtigen Situation eine schnellere planerische Erreichbarkeit in Richtung der Gemeinden Balge, Marklohe, Wietzen, Pennigsehl und Binnen sowie immer noch eine Versorgung des Kernstadtbereiches Nienburg innerhalb der 15 Minuten zu gewährleisten. Hierdurch können die durch eine lange Fahrdauer hervorgerufenen Hilfsfristüberschreitungen in den Samtgemeinden Marklohe und Liebenau zukünftig vermieden werden.

 

Es werden Teilbereiche der Samtgemeinde Steimbke (insb. die Gemeinde Rodewald) durch den Standort Nienburg planerisch nicht hinreichend schnell versorgt. Zur Versorgung der Gemeinde Rodewald und kleinerer Gebiete der Gemeinde Steimbke gibt es mit dem Heidekreis und der Region Hannover Verträge über die nachbarschaftliche Zusammenarbeit. Diese Unterstützung konnte allerdings nicht in dem benötigten Umfang geleistet werden. Insgesamt betrachtet ist die Versorgung im Bereich der Samtgemeinde Steimbke mit Leistungen der Notfallrettung nicht zufriedenstellend. Sollte eine Intensivierung der nachbarschaftlichen Zusammenarbeit nicht möglich sein, ist nach Aussage des Gutachters vom Rettungsdienstträger ein Standort in Steimbke einzurichten. Gespräche mit den Nachbarlandkreisen wurden geführt, eine Unterstützung über den bisherigen Umfang hinaus ist nicht möglich. Es ist eine zusätzliche Rettungswache in Steimbke einzurichten. Durch diese Maßnahme wird die planerische Erreichbarkeit in der Samtgemeinde Steimbke hergestellt.

 

Rettungsmittelausstattung

Neben den Standortanpassungen ist die Rettungsmittelausstattung deutlich zu erhöhen.

 

Mit der Einrichtung einer neuen Rettungswache in Steimbke sowie der Stellung eines 2. RTW in Hoya (dafür Abzug des KTW), der Ausweitung der Besetztzeiten der vorhandenen Fahrzeuge und der Einrichtung eines KTW-Pools ergibt sich ein Mehrbedarf von 2 RTW und 2 Reservefahrzeuge (ohne Personalausstattung).

Das entspricht einer Rettungsmittelausweitung von rd. 20%.


 

b) Notarztversorgung

 

Bezüglich der notärztlichen Versorgung besteht üblicherweise eine stärkere Bindung an vorgegebene Standorte als in der Notfallrettung. Die Orientierung erfolgt dabei im Allgemeinen an Krankenhausstandorten, die – eine entsprechende Ausrichtung und Ausstattung vorausgesetzt- derzeit noch häufig die Notärzte für den Rettungsdienst stellen.

 

Im Landkreis Nienburg sind aktuell 3 Notarztsysteme (Hoya, Nienburg und Stolzenau) angesiedelt. Standortstrukturell besteht die Situation, dass Teilbereiche des Rettungsdienstbereiches planerisch von den Notärzten innerhalb einer Eintreffzeit von 15 Minuten nicht gesichert erreicht werden können. Da im Land Niedersachsen keine eigenständige Hilfsfrist für die notärztliche Versorgung besteht, ist auch eine flächendeckende notärztliche Versorgung innerhalb von 15 Minuten nicht zwingend, insbesondere wenn die bestehende Rettungswachenstruktur grundsätzlich bereits eine Eintreffzeit des RTW von 15 Minuten planerisch flächendeckend ermöglicht. Hier kann bezüglich der notärztlichen Versorgung eine angemessene verlängerte Eintreffzeit toleriert werden. Es werden daher die bisher bestehenden Notarztsysteme Hoya, Nienburg und Stolzenau als bedarfsgerecht festgeschrieben.

 

Eine Verlagerung des Notarztstandortes von den Mittelweserkliniken zur Rettungswache Nienburg würde nach den vorliegenden Ergebnissen eine gewisse bessere planerische Erreichbarkeit ergeben, allerdings wäre damit die Anbindung an die Krankenhausversorgung vor Ort nicht mehr gegeben. Unter den derzeitigen rechtlichen Vorgaben, den vorgesehenen Verfahrensabläufen sowie den Vorteilen einer Anbindung an die Krankenhausversorgung vor Ort wird von einer solchen Verlagerung derzeit abgesehen.

 

 

c) Krankentransport

 

In Niedersachsen ist die Eintreffzeit lediglich für die Planung der Standorte der Rettungswachen und der Anzahl der vorzuhaltenden Rettungsmittel im Bereich der Notfallrettung zu beachten. Im Bereich des Krankentransportes gibt es die Vorgabe, dass die Anzahl der Krankentransportwagen so bemessen sein soll, dass die Wartezeit in der Regel 30 Minuten nicht übersteigt.

 

Für die Versorgungsbereiche im Landkreis Nienburg empfiehlt sich, dass die für die Notfallrettung vorgehaltenen Fahrzeuge zur Spitzenabdeckung auch Krankentransport durchführen, sofern die Einhaltung der Hilfsfrist in der Notfallrettung nicht gefährdet ist. Unter Berücksichtigung der Erhöhung der gesamten Rettungsmittelvorhaltung ist ein Fuhrpark von insgesamt 5 KTW notwendig. Da die Nachfrage nach Krankentransporten mengenmäßigen oder auch tageszeitlichen Schwankungen unterliegt, kann es notwendig werden, die Vorhaltezeiten flexibel zu gestalten.


Im Einzelnen ergeben sich folgende Veränderungen:

  • Der Krankentransportwagen aus Hoya wird nach Nienburg verlegt. In Hoya wird ein zweiter RTW stationiert.
  • Die bisherigen Einsatzzeiten der vorhandenen KTW werden erweitert.
  • Es wird ein KTW für Fernfahrten vorgehalten.
  • Der KTW, bisher in der Rettungswache in Stadt Rehburg-Loccum stationiert wird nach Stolzenau zur NEF-Wache verlegt.
  • Beim Einsatz der RTW im Bereich des Krankentransportes sind Dispositionsvorgaben (kurzdauernde Transporte, Einsatz- und Zielort im jeweiligen Notfallrettungsbereich bzw. dessen unmittelbaren Umfeld) von der Leitstelle zu beachten.

 

 

2. Sofortmaßnahmen

 

Da davon auszugehen ist, dass die Umsetzung des Bedarfsplanes einige Zeit (1 ½ bis 2 Jahre) in Anspruch nehmen wird, der Landkreis Nienburg/Weser aber gleichzeitig in der Verpflichtung steht, einen adäquaten Rettungsdienst sicher zu stellen, wird eine Interimslösung auf der Grundlage der bestehenden vereinbarten Strukturen vorgeschlagen. Eine Prioritätenliste mit den verschiedenen Maßnahmen wurde vom Gutachter erarbeitet:

 

  • Etablierung des 2. RTW in Hoya (täglich 9.00-21.00 Uhr), der vorhandene KTW wird nach Nienburg abgezogen
  • Erweiterung der Vorhaltung des 2. RTW in Steyerberg von bisher Mo-Fr 7.00-15.00 Uhr auf Mo-Fr 8.00-20.00 Uhr, Sa 11.00-20.00 Uhr, So/Fe 11.00-20.00 Uhr
  • Verlagerung eines Tag-RTW der Rettungswache Nienburg zur Gebietsabdeckung nach Steimbke (täglich von 7.00-21.00 Uhr)
  • Verlagerung eines Tag-RTW der Rettungswache Nienburg zur Gebietsabdeckung nach Marklohe (täglich 7.00-18.00 Uhr)
  • Verlegung des KTW, stationiert in Rehburg-Loccum nach Stolzenau
  • Entlastung der Notfallrettung durch zusätzliche KTW-Vorhaltung der Rettungswachen Nienburg und Stolzenau

 

Darüber hinaus wurden bereits mit der Integrierten Regionalleitstelle in Stadthagen, den Beauftragten, den Mittelweserkliniken und den Nachbarkreisen weitere organisatorische Regelungen abgesprochen, die diese Maßnahmen unterstützen sollen.

 

3. Rechtskonforme Umsetzung des Bedarfsplans und der Sofortmaßnahmen

 

a) Rechtsgrundlagen der EU und deren Auswirkungen

 

Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshof aus dem Jahr 2010 war festgeschrieben, dass es sich bei der Einschaltung von Beauftragten für Rettungsdienstleistungen um öffentliche Aufträge handelte, die dem europäischen und nationalen Vergaberecht unterlagen. Anfang 2014 hat nunmehr das Europäische Parlament eine neue Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe verabschiedet und eine sog. Bereichsausnahme für den Rettungsdienst geregelt, wonach Übertragungen von Dienstleistungsaufträgen in diesem Bereich – unter Beachtung bestimmter Rahmenbedingungen – nicht den stringenten Vergaberegelungen der Richtlinie unterliegen.


 

Diese neue EU-Rechtsetzung hat jedoch keine unmittelbaren Auswirkungen auf anstehende Beauftragung von Rettungsdienstleistungen, weil sie erst mit der Umsetzung in nationales Recht unmittelbar Wirkung entfaltet. Diese Umsetzung dürfte bis zu zwei Jahre in Anspruch nehmen, so dass bis dahin weiterhin die bisherigen Regeln des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), § 97 ff. GWB und der Vergabeverordnung bzw. der Konzessionsvergabe gelten. Darüber hinaus bleiben – so oder so – die Grundsätze des EU-Primärrechts (u. a. Transparenz, Nichtdiskriminierung, Verhältnismäßigkeit) verbindlich für vertragliche Beauftragungsverfahren im öffentlichen Bereich.

 

Die Umsetzung des neuen Bedarfsplanes bedarf gegenüber den bestehenden Vereinbarungen absehbar erheblicher Leistungserweiterungen. Das gilt – in geringerem Maße – auch für die Sofortmaßnahmen. Es ist deshalb die Frage zu beantworten, ob eine Eigenleistung des Landkreises in Betracht kommt oder unter Beachtung welcher Vergabemodalitäten die neuen Leistungen rechtskonform zu beauftragen sind.

 

b) Umsetzung des Bedarfsplans

 

aa) Eigenleistung des Landkreises

Theoretisch könnte der Landkreis die bisher von den beauftragten Rettungsdienstorganisationen erbrachten Leistungen auch selber erbringen. Die Kommunalisierung ist aus folgenden Gründen jedoch keine vorzugswürdige Option: Der Landkreis müsste sämtliches erforderliche Personal und sämtliche Sachmittel sich beschaffen bzw. übernehmen. Die für die Steuerung erforderliche Organisation müsste aufgebaut und die den professionellen Rettungsdienstorganisationen vergleichbare Kompetenz von Grund auf neu erworben werden. Hohe Investitionskosten und ein hoher Aufwand für die Überleitung und die dann geltende Verpflichtung zur Ausschreibung jeder Leistung und Lieferung sind zu erwarten. Darüber hinaus müsste der Landkreis das Personal- und sonstige Kostenrisiko unmittelbar tragen. Last, but not least würde bei dieser Lösung von vornherein die bewährte Einbindung der mit dem Rettungsdienst beauftragten Organisation in die Gefahrenabwehr bei Großschadensereignissen (KatS) aufgegeben. Dies wäre kontraproduktiv für eine in sich schlüssige Struktur der medizinischen Gefahrenabwehr.
Nach allem ist die Beauftragung versierter Rettungsdienstorganisationen vorzuziehen, so dass die Frage der rechtskonformen Vergabe geklärt werden muss.

bb) Vergabe an Rettungsdienstleister

 

(1)  Zu betrachtende Rechtspositionen

Bei den in Betracht kommenden Vergabemodalitäten an fach- und sachkundige Rettungsdienstleister sind zwei gegensätzliche Positionen vertretbar:

 

·          Freihändige Vergabe der Mehrleistungen auf der Basis der bestehenden Vereinbarungen

·          Neuausschreibung der gesamten durch den Bedarfsplan definierten Leistung

 

Voraussetzung für die erste Variante ist, dass die bestehenden Verträge aus dem Jahr 2007 trotz der Weiterentwicklung der Rechtslage in den vergangenen Jahren Bestandskraft haben.


Diese Position vertritt mit nachvollziehbaren Argumenten das vom DRK vorgelegte Rechtsgutachten von „SKW Schwarz Rechtsanwälte Berlin“. In der Tat greifen die in Betracht kommenden Nichtigkeits- und Unwirksamkeitsgründe für die bestehenden Verträge nicht durch, so dass für den Status quo von deren Wirksamkeit auszugehen ist.

Fraglich ist jedoch, ob angesichts des erheblichen zusätzlichen Leistungsumfangs, der zur Umsetzung des Bedarfsplans erforderlich würde, der mit den prinzipiell wirksamen Verträgen vereinbarte Status quo unangetastet bleiben kann, oder ob möglicherweise eine Kündigungspflicht mit dem Ziel einer rechtmäßigen Gesamtausschreibung des Auftrags besteht.

 

Das o. g. Gutachten verneint eine derartige Kündigungspflicht mit angreifbarer Begründung: Schon der Wert der Sofortleistungen, die hinter dem Bedarfsplan zurückbleiben würden, überschreitet mit im Durchschnitt annähernd 14 % des ursprünglichen Auftragswertes die Schwelle der sog. „Wesentlichkeit“ von 10 % des ursprünglichen Auftragswerts, die lt. OLG Celle und EU-Gesetzgeber für die Vergabemodalitäten maßgeblich ist. Das Gutachten geht wie selbstverständlich davon aus, dass sich allenfalls die Frage einer Ausschreibung der zusätzlichen Leistung stelle. Diese Betrachtungsweise ist anzuzweifeln, weil die festgestellte Wesentlichkeit ja gerade deutliche Auswirkungen auf das bestehende Vertragsverhältnis hat. Das Gutachten versucht die Relevanz der neuen Vertragsgegenstände dadurch zu relativieren, dass trotz der Größenordnung Dritte kein Interesse an den Leistungen haben würden, mithin sich die Marktfrage nicht neu stelle. Diese Argumentation legt jedoch die Frage nahe, ob das Gutachten nicht einem Fehlschluss unterliegt: Das potentiell mangelnde Interesse an dem Auftrag ergibt sich nur daraus, dass die zusätzlichen Leistungen von vornherein als getrennt zu vergeben angesehen werden und neben dem bereits vertraglich Vereinbarten wirtschaftlich nicht zu erbringen sind. Potentielle neue Bewerber sind also deshalb interessen– und damit chancenlos, weil trotz der Wesentlichkeit der neuen Leistungen der Status quo des bestehenden Vertrages nicht hinterfragt wird. Daraus ergibt sich die Pflicht zu prüfen, ob die gebotene Gleichbehandlung potentieller Bieter bei wesentlichen Neuleistungen nicht gerade die Neuvergabe des Gesamtauftrags gebietet. So dürfte die Rechtsprechung des EuGH zu verstehen sein, die Änderungen eines bestehenden Vertrages als unzulässig ansieht, wenn sie wesentlich sind. Es spricht viel dafür, dass die grundsätzliche Pflicht zur Durchführung eines fairen und diskriminierungsfreien Beauftragungsverfahrens die Trennung der Vergabe der neuen „wesentlichen“ Leistungen von den bisher vereinbarten und erbrachten nicht erlaubt und deshalb eine rechtskonforme Vergabe des „Gesamtpakets“ nach Kündigung der bestehenden Verträge erfordert (vgl. Jacobi, „EuGH-Urteil zum Rettungsdienst: Rechtsfolgen für bestehende Verträge“, NLT 1/2011, S. 16; Wagner, „Wesentliche Änderungen sind vergaberechtlich relevant“, Staatsanzeiger Nr. 49, 14.12.2012).

 

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die mit der „Wesentlichkeitstheorie“ verfolgte Zielsetzung von Rechtsprechung und Gesetzgebung nur Sinn macht, wenn bei Bejahung der Wesentlichkeit ein faires und gleichberechtigtes Verfahren für den Gesamtauftrag sichergestellt wird. Die vom DRK vertretene Rechtsposition mit der Trennung von vertraglichem Status quo und Beauftragung der Neuleistung verfehlt diese Zielsetzung zugunsten der etablierten Leistungserbringer und würde bei Wahrnehmung dieser Option den Landkreis und den über dieses Verfahren Beauftragten erheblichen rechtlichen Risiken aussetzen.


 

(2)  Klärung der Vergabemodalitäten

Angesichts der sehr gegensätzlichen juristischen Positionen sollte der Landkreis sich seinerseits durch Beauftragung einer externen juristischen Expertise mit der Zielsetzung absichern, ein möglichst rechtssicheres Verfahren zu wählen, das sowohl den sachlichen wie den juristischen Erfordernissen gerecht wird. Im Fall der Bejahung des Erfordernisses, nach Kündigung der bestehenden Verträge die Gesamtleistung neu zu vergeben, ist darüber hinaus zu klären, welches der in Betracht kommenden Verfahren – „klassische“ Submission oder Konzessionsvergabe – vorzugswürdig ist. Schon an dieser Stelle sei festgehalten, dass die mit Etablierung des Konzessionsmodell im NRettDG einhergehende Hoffnung nach mehr oder weniger freihändiger Vergabe im Rahmen der hergebrachten Strukturen nicht realistisch ist: Die bereits mehrfach zitierten primärrechtlichen Grundlagen der EU erfordern auch im Rahmen der öffentlichen Konzession Verfahrensrahmenbedingungen, die sich stark an die Erfordernisse einer Submission annähern.

 

 

c) Vergabe der Sofortmaßnahmen

 

Anders als bei der endgültigen Umsetzung des Bedarfsplanes können die vorstehend diskutierten juristischen Grundsatzfragen bezüglich der Beauftragung der Sofortmaßnahmen offen bleiben, weil insoweit Ausnahmeregelungen gelten:

 

Zunächst ist festzuhalten, dass die Sofortmaßnahmen eine Interimslösung darstellen, um bis zur endgültigen Umsetzung des Bedarfsplanes hinsichtlich der Eintreffzeiten einen rechtmäßigen Betrieb des Rettungsdienstes zu gewährleisten. Inhaltlich bleiben die Leistungen erheblich hinter den Leistungen des Bedarfsplanes zurück, insbesondere wird lediglich ein vorhandener RTW von Nienburg nach Steimbke verlagert und dort nicht – wie im Bedarfsplan vorgesehen – eine neue Rettungswache mit einem zusätzlichen Fahrzeug etabliert. Selbst wenn man diese Maßnahmen nicht durch die bestehenden Verträge als abgedeckt ansehen sollte, greifen vorliegend Ausnahmen von einer möglichen Ausschreibungspflicht bezüglich der Sofortmaßnahmen: Gem. § 3 EG Abs. 4 f VOL/A ist ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb zulässig, wenn die Dienstleistungen im geschlossenen Vertrag nicht vorgesehen sind, jedoch wegen eines unvorhergesehenen Ereignisses zur Ausführung der im Hauptvertrag beschriebenen Dienstleistungen erforderlich sind und in technischer oder wirtschaftlicher Hinsicht nicht ohne wesentlichen Nachteil für den Auftraggeber vom Hauptauftrag trennen lassen. Die mit dem Rettungsdienstgutachten aufgezeigten Defizite des Rettungsdienstes im Landkreis Nienburg/Weser waren in der vorliegenden Dimension nicht vorhersehbar und ihre unverzügliche Bewältigung lässt sich nicht von den vorhandenen Hauptaufträgen getrennt durchführen. Zusätzlich dürfte der Ausnahmetatbestand der „zwingenden Dringlichkeit“ (§ 3 Abs. 4 d EG VOL/A) greifen, denn das signifikante Überschreiten der Hilfsfrist gebietet unverzügliches Handeln, dem die Durchführung eines aufwendigen Submissionsverfahrens entgegenstünde. Die Einschränkung, dass diese Ausnahmevorschrift bei selbst verschuldeter Dringlichkeit nicht greift, trifft vorliegend nicht zu. Im Übrigen wird mit der Sofortvergabe keine endgültige, sondern lediglich eine Interimsbeauftragung von 1 ½ bis 2 Jahren bis zur endgültigen vergaberechtskonformen Beauftragung der Umsetzung des Bedarfsplanes beabsichtigt.


Darüber hinaus dürfte es sich bei den befristeten Sofortmaßnahmen um geringfügige Nachbestellungen im Anschluss an bestehende Verträge gem. § 3 Abs. 5 d VOL/A handeln, die freihändig zulässig ist. Bezüglich der Sofortmaßnahmen besteht nach allem weitgehend Konsens mit den Ausführungen des vom DRK beigebrachten Rechtsgutachtens.

 

 

4.  Weitere Vorgehensweise

-    Die Sofortmaßnahmen sind auf der Basis der bestehenden Verträge mit den Beauftragten zügig zu verhandeln und als Interimslösung umzusetzen.

 

-    Die offene Rechtsfrage der Vergabemodalitäten bezüglich der endgültigen Umsetzung des vom Kreistag zu beschließenden Bedarfsplans wird durch Beauftragung einer fachanwaltlichen Expertise geklärt, die ggf. auch ein Votum zur Art der Ausschreibung (Submission, Konzession) abgibt.

 

-    Auf der Basis der vorstehenden Erkenntnisse sollte nach Beteiligung des Ausschusses für Brandschutz und Rettungswesen der Kreisausschuss in der zweiten Jahreshälfte die Entscheidung über das weitere Beauftragungsverfahren treffen. Sollte die Variante einer weitgehend freihändigen Vergabe nicht zum Tragen kommen, dürfte angesichts des aufwendigen Vergabeverfahrens die Umsetzung des neuen Bedarfsplanes nicht vor dem Jahreswechsel 2015/2016 zu erwarten sein.