Betreff
Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) im Landkreis Nienburg/Weser
Vorlage
2019/065
Aktenzeichen
310-3/01-100
Art
Bericht

Der Bericht über den Stand der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) im Landkreis Nienburg/Weser wird zur Kenntnis genommen.


Sachverhalt

Am 26.12.2016 wurde das Bundesteilhabegesetz (BTHG) beschlossen. Das BTHG ist eines der großen sozialpolitischen Vorhaben der Bundesregierung in der vergangenen Legislaturperiode. Ziel ist es, die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern und so einen weiteren wichtigen Meilenstein auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft zu setzen. Gleichzeitig werden mit dem BTHG Vorgaben des Koalitionsvertrages für die 18. Legislaturperiode umgesetzt, die u.a. vorsehen, die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen im Sinne von mehr Teilhabe und mehr Selbstbestimmung zu verbessern sowie die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln. Darüber hinaus wird mit diesem Gesetz das Schwerbehindertenrecht weiterentwickelt.

 

Die mit dem BTHG verbundenen Reformen traten bzw. treten in mehreren Stufen in Kraft:

 

Reformstufe 1 trat noch in der 18. Legislaturperiode in Kraft:

ab 1. Januar 2017:

  • Änderungen im Schwerbehindertenrecht.
  • Erste Stufe bei Verbesserungen in der Einkommens- und Vermögensheranziehung, insbesondere durch die Erhöhung des Einkommensfreibetrags um bis zu 260 Euro monatlich und des Vermögensfreibetrags um 25.000 Euro.
  • Verdoppelung des Arbeitsförderungsgeldes von 26 Euro auf 52 Euro

ab 1. April 2017:

  • Erhöhung des Schonvermögens für Bezieher von SGB XII-Leistungen von derzeit 2.600 Euro auf 5.000 Euro

 

Reformstufe 2 trat

am 1. Januar 2018 in Kraft:

  • Einführung SGB IX, Teil 1 (Verfahrensrecht) und 3 (Schwerbehindertenrecht).
  • vorgezogene Verbesserungen im Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in der Eingliederungshilfe (im SGB XII).

 

Reformstufe 3 tritt aufgrund notwendiger Umstellungsprozesse in den Sozialverwaltungen

am 1. Januar 2020 in Kraft:

  • Trennung der Fachleistungen der Eingliederungshilfe von den existenzsichernden Leistungen.
  • Zweite Stufe bei Verbesserungen in der Einkommens- und Vermögensheranziehung: Dies führt im Ergebnis dazu, dass die Leistungsbezieher noch mehr von ihren Einkünften behalten können im Vergleich zum Status Quo (Durchschnittsfall: 300 Euro mehr monatlich) Bei Ehegatten/Partnern und bei hohem Einkommen kann die Entlastung höher ausfallen. Der Vermögensfreibetrag steigt auf rund 50.000 Euro. Partnereinkommen und -vermögen wird nicht mehr herangezogen.

 

Reformstufe 4 tritt

zum 1. Januar 2023 in Kraft:

  • Leistungsberechtigter Personenkreis in der Eingliederungshilfe (Artikel 25a BTHG, § 99 SGB IX)

 

Umsetzung des BTHG in Niedersachsen (und in Nienburg)

 

Die erste Stufe der Reform hat noch keine nennenswerten Auswirkungen gebracht. Die Erhöhung der Vermögensfreibeträge führt im Einzelfall zu einem Bedarf, der vorher nicht geltend gemacht werden konnte, die Zahl dieser (Mehr-)fälle ist aber gering.

 

Die zweite Stufe hat umfangreiche Änderung hinsichtlich der Bedarfsfeststellung mit sich gebracht. Das Gesamtplanverfahren, und darin die Bedarfsfeststellung, sind erheblich aufwendiger geworden. Insbesondere über die dafür erforderlichen sozialpädagogischen Mitarbeiter/innen verfügte zu Beginn 2018 so gut kein kommunaler Sozialhilfeträger. Hier bessern seitdem alle Landkreise und Städte nach, abhängig vom „Status Quo“ der vorherigen Aufstellung in diesem Bereich.

 

Da der Landkreis Nienburg bereits seit einigen Jahren dazu übergegangen ist, die Hilfeplanung durch entsprechende sozialpädagogische Fachkräfte sicherzustellen, konnte ein „weicher“ Übergang in die Stufe 2 vollzogen werden. Diese Entscheidung ist in Nachhinein richtig gewesen, weil das maßgebliche –und vom Land verbindlich vorgeschriebene- „Bedarfsfeststellungsinstrument“, der sog. BENi-Bogen, noch immer nicht von den Software-Herstellern implementiert werden konnte. Im Grunde wird bis heute die Bedarfsfeststellungen in gewohnter Art und Weise durchgeführt.

 

Für das Jahr 2019 sind zwei zusätzliche Hilfeplaner (Sozialpädagogen/innen) im Haushalt vorgesehen, das Stellenbesetzungsverfahren ist nunmehr angeschoben worden. Nach dem Verfahren und einer erfolgten Einarbeitung besteht die Erwartung, dass die für Mitte diesen Jahres angekündigte Softwarelösung dann den alten und neuen Mitarbeitern/innen der Hilfeplanung zur Verfügung steht und das Bedarfsfeststellungsverfahren „schulmäßig“ durchgeführt werden kann.

Hinweis:

Andere Kommunen arbeiten in der Übergangszeit (also bis zu einer integrierten Softwarelösung) mit eigenen (WORD-)Vordrucken. Hiervon, d.h. vom mehrmaligen Umstellen der Prozesse, wurde bei uns bewusst abgesehen, da auch unsere bisher bewährte Hilfeplanung in den Ergebnissen dem BENi-Verfahren nicht nachsteht.

Ob die personelle Ausstattung im Bereich der Hilfeplanung (im FD 311, aber auch in Kinder- und Jugendärztlichen Dienst!) damit auskömmlich sein wird, muss sich in der Praxis erweisen und kann sicher nicht vor Ende 2019 valide beurteilt werden.

 

Weitere verfahrensrechtliche Neuerungen ergeben sich im Berichtswesen, allerdings hat sich der anfängliche „Schrecken“ des abzugebenden Teilhabeverfahrensberichts gelegt. Aufwand und Auswirkungen für die einzelnen Kommunen halten sich in Grenzen.

 

In der dritten Stufe sind erhebliche Auswirkungen auf unsere Verwaltung zu erwarten. Die Umsetzung bis zum Ende dieses Jahres ist hochambitioniert!

Merklich wird sich der Kreis der Anspruchsberechtigten durch grundlegende Änderungen bei der Einkommens- und Vermögensanrechnung erhöhen, auch auf der Einnahmeseite ist mit Ausfällen zu rechnen.

 

Bedeutsamer ist aber die Trennung der Fachleistungen der Eingliederungshilfe und der existenzsichernden Leistungen. Dies bedeutet, dass die Fallkonstellationen, die bisher in stationären Einrichtungen untergebracht waren, zukünftig den Regelbedarf (zzgl. eventueller Mehrbedarfe) und die Kosten der Unterkunft als Sozialhilfe (also vom Fachdienst 312) erhalten. Fachliche Leistungen werden aufgrund der Ergebnisse der Hilfeplanung vom FD 311 gewährt. Diese Schnittstelle wird eine enorme Herausforderung sein, rechtlich, arbeitsorganisatorisch und EDV-technisch.

 

Beispiele für praktische Probleme im Einzelfall:

-       Festlegung der angemessenen KdU (Rest ist ggf. Fachleistung)

-       Was ist mit Nachforderungen/Guthaben aus Heiz- und Nebenkostenabrechnungen?

-       Was zählt zur KdU (Zimmer/Gemeinschaftsflächen/Küche usw.)?

-       Was gehört zum Lebensunterhalt (Verpflegung: Ja / Gemeinsam zubereitetes Essen: Nein, weil Fachleistung)?

Diese Aufzählung ließe sich nahezu endlos fortsetzen.

 

Problematisch kann auch die damit verbundene Abkehr vom „Bruttoprinzip“ werden:

Bisher hat der FD 311 die „Heimkosten“ in voller Höhe an den Einrichtungsträger überwiesen. Einkommen und Unterhaltsansprüche wurden auf uns übergeleitet und vereinnahmt.

Ab 2020 ist das Einkommen der Leistungsberechtigten zunächst auf den Lebensunterhalt anzurechnen. Um diesen Betrag gemindert werden die existenzsichernden Leistungen (Sozialhilfe) bewilligt und gezahlt. Wenn die o.g. (interne) Schnittstelle funktioniert, bekommt das „Heim“ (neu: Besondere Wohnform) den Rest vom FD 311.

Die Einrichtung erhält „ihr“ Geld ggf. von drei oder mehr Stellen. Ob dies von den Anspruchsberechtigten (und ggf. ihren Betreuern/innen), die Ihr Einkommen einzusetzen haben, auch durchschaut wird, bleibt abzuwarten. Zu befürchten ist aber, dass der FB Soziales im Eskalationsfall als „Ausfallbürge“ Forderungen des Anbieters der Besonderen Wohnformen auszugleichen hat.

 

Personell verlagert sich (der in der Summe zumindest gleiche) Arbeitsumfang von der Sachbearbeitung des FD 311 in den FD 312. Derzeit geht die Verwaltung von der Umsetzung einer Vollzeitäquivalenz aus.

 

Die vierte Reformstufe (2023) dürfte in der Praxis des Landkreises Nienburg als örtlicher Sozialhilfeträger weniger relevant sein.

 

 

 

Finanzierung/Zuständigkeit:

 

Seit einigen Wochen gilt als gesichert, dass die fast 2 Jahre andauernde „Hängepartie“ um die Zuständigkeit des örtlichen (=Landkreis) und überörtlichen (=Land) Sozialhilfeträgers ein Ende findet. Das Land hat sich zum teilweisen Ausgleich der finanziellen Verwerfungen bei Umsetzung der schon lange für alternativlos eingeschätzten Zuständigkeitsregelungen bereit erklärt. Seitens des Landkreises Nienburg verbleibt unter Betrachtung der Zahlen von 2015-2017 ein Fehlbetrag von ca. 290.000 €. Diese vergleichsweise geringe Einbuße um Jahr 2020 ist aus Sicht der Verwaltung hinnehmbar, da der Landkreis Nienburg angesichts der demographischen Perspektiven bereits relativ kurzfristig vom Zuständigkeitsübergang aller über 18jährigen zum Land profitieren dürfte.

 

Unbefriedigend ist auch für den Landkreis Nienburg, dass die ebenso lange im Streit befindliche Regelung der Konnexität nur unzureichend gelöst wurde. Das Land erkennt die Erstattung von Personalkosten auf der Grundlage von 1:150 (unter Berücksichtigung aller Professionen) an, was alle Praktiker als illusorisch bewerten. Hinsichtlich der Implementierungskosten von (aufgrund der Landesvorgaben hinsichtlich BENi erforderlichen) Lizenzen sowie Softwaremodulen und –schulungen, die von kommunaler Seite eingefordert werden, hat das Land bisher keine Zugeständnisse in Aussicht gestellt.

 

 

Zu guter Letzt:

 

Das Land Niedersachsen ist das einzige Bundesland, das noch kein Ausführungsgesetz auf den Weg gebracht hat. Neben der dadurch noch bestehenden Rest-Unsicherheit hinsichtlich der Zuständigkeit (die dort zu regeln wäre), ergeben sich dadurch weitere Regelungsbedarfe, die bis zum Inkrafttreten der 3. Reformstufe am 01.01.2020 schon jetzt kaum noch zu realisieren sein werden.

Davon hängt letztlich auch ab, wer in welcher Form die ab 2020 anzuwendenden Verträge mit den Anbietern zu schließen hat. Hinsichtlich der neuen „Besonderen Wohnformen“ bedeutet dies unter Verweis auf die Trennung der Fach- und existenzsichernden Leistungen, dass man nicht unbedingt davon ausgehen kann, dass in Niedersachsen die 3. Reformstufe pünktlich zum 01.01.2020 umzusetzen sein wird.

Die Verwaltung geht davon aus, dass man sich in einer Übergangszeit mit der Weitergeltung der bestehenden Verträge behelfen muss, was bei der Umstellung im Verlauf des Jahres 2020 unnötige Umstellungs- und Nacharbeiten nach sich ziehen wird.


Finanzielle Auswirkungen:

 

Die finanziellen Auswirkungen können im Einzelnen noch nicht beziffert werden, finden aber Eingang in die Haushaltsplanungen des Jahres 2020.


Anlagen:

 

·         ohne