Der Bericht über den Stand der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) im Landkreis Nienburg/Weser wird zur Kenntnis genommen.
Sachverhalt
Am 26.12.2016 wurde das
Bundesteilhabegesetz (BTHG) beschlossen. Das BTHG ist eines der großen
sozialpolitischen Vorhaben der Bundesregierung in der vergangenen
Legislaturperiode. Ziel ist es, die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen
zu verbessern und so einen weiteren wichtigen Meilenstein auf dem Weg hin zu
einer inklusiven Gesellschaft zu setzen. Gleichzeitig werden mit dem BTHG Vorgaben
des Koalitionsvertrages für die 18. Legislaturperiode umgesetzt, die u.a. vorsehen,
die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen im Sinne von mehr Teilhabe
und mehr Selbstbestimmung zu verbessern sowie die Eingliederungshilfe zu einem
modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln. Darüber hinaus wird mit diesem
Gesetz das Schwerbehindertenrecht weiterentwickelt.
Die mit dem BTHG verbundenen
Reformen traten bzw. treten in mehreren Stufen in Kraft:
Reformstufe 1 trat noch in
der 18. Legislaturperiode in Kraft:
ab 1. Januar 2017:
- Änderungen im
Schwerbehindertenrecht.
- Erste Stufe bei Verbesserungen in
der Einkommens- und Vermögensheranziehung, insbesondere durch die Erhöhung
des Einkommensfreibetrags um bis zu 260 Euro monatlich und des
Vermögensfreibetrags um 25.000 Euro.
- Verdoppelung des
Arbeitsförderungsgeldes von 26 Euro auf 52 Euro
ab 1. April 2017:
- Erhöhung des Schonvermögens für
Bezieher von SGB XII-Leistungen von derzeit 2.600 Euro auf 5.000 Euro
Reformstufe 2 trat
am 1. Januar 2018 in Kraft:
- Einführung SGB IX, Teil 1
(Verfahrensrecht) und 3 (Schwerbehindertenrecht).
- vorgezogene Verbesserungen im
Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in der
Eingliederungshilfe (im SGB XII).
Reformstufe 3 tritt
aufgrund notwendiger Umstellungsprozesse in den Sozialverwaltungen
am 1. Januar 2020 in Kraft:
- Trennung der Fachleistungen der
Eingliederungshilfe von den existenzsichernden Leistungen.
- Zweite Stufe bei Verbesserungen in
der Einkommens- und Vermögensheranziehung: Dies führt im Ergebnis dazu,
dass die Leistungsbezieher noch mehr von ihren Einkünften behalten können
im Vergleich zum Status Quo (Durchschnittsfall: 300 Euro mehr monatlich)
Bei Ehegatten/Partnern und bei hohem Einkommen kann die Entlastung höher
ausfallen. Der Vermögensfreibetrag steigt auf rund 50.000 Euro.
Partnereinkommen und -vermögen wird nicht mehr herangezogen.
Reformstufe 4 tritt
zum 1. Januar 2023 in Kraft:
- Leistungsberechtigter Personenkreis
in der Eingliederungshilfe (Artikel 25a BTHG, § 99 SGB IX)
Umsetzung des BTHG in Niedersachsen (und in Nienburg)
Die erste Stufe der Reform hat noch keine nennenswerten
Auswirkungen gebracht. Die Erhöhung der Vermögensfreibeträge führt im
Einzelfall zu einem Bedarf, der vorher nicht geltend gemacht werden konnte, die
Zahl dieser (Mehr-)fälle ist aber gering.
Die zweite Stufe hat umfangreiche Änderung hinsichtlich der
Bedarfsfeststellung mit sich gebracht. Das Gesamtplanverfahren, und
darin die Bedarfsfeststellung, sind erheblich aufwendiger geworden.
Insbesondere über die dafür erforderlichen sozialpädagogischen
Mitarbeiter/innen verfügte zu Beginn 2018 so gut kein kommunaler Sozialhilfeträger.
Hier bessern seitdem alle Landkreise und Städte nach, abhängig vom „Status Quo“
der vorherigen Aufstellung in diesem Bereich.
Da der Landkreis Nienburg
bereits seit einigen Jahren dazu übergegangen ist, die Hilfeplanung durch
entsprechende sozialpädagogische Fachkräfte sicherzustellen, konnte ein „weicher“ Übergang in die Stufe 2
vollzogen werden. Diese Entscheidung ist in Nachhinein richtig gewesen, weil
das maßgebliche –und vom Land verbindlich
vorgeschriebene- „Bedarfsfeststellungsinstrument“, der sog. BENi-Bogen, noch immer nicht von
den Software-Herstellern implementiert werden konnte. Im Grunde wird bis heute
die Bedarfsfeststellungen in gewohnter Art und Weise durchgeführt.
Für das Jahr 2019 sind zwei
zusätzliche Hilfeplaner (Sozialpädagogen/innen) im Haushalt vorgesehen, das
Stellenbesetzungsverfahren ist nunmehr angeschoben worden. Nach dem Verfahren
und einer erfolgten Einarbeitung besteht die Erwartung, dass die für Mitte
diesen Jahres angekündigte Softwarelösung dann den alten und neuen
Mitarbeitern/innen der Hilfeplanung zur Verfügung steht und das Bedarfsfeststellungsverfahren
„schulmäßig“ durchgeführt werden kann.
Hinweis:
Andere Kommunen arbeiten in
der Übergangszeit (also bis zu einer integrierten Softwarelösung) mit eigenen
(WORD-)Vordrucken. Hiervon, d.h. vom mehrmaligen Umstellen der Prozesse, wurde
bei uns bewusst abgesehen, da auch unsere bisher bewährte Hilfeplanung in den
Ergebnissen dem BENi-Verfahren nicht nachsteht.
Ob die personelle Ausstattung
im Bereich der Hilfeplanung (im FD 311, aber auch in Kinder- und
Jugendärztlichen Dienst!) damit auskömmlich sein wird, muss sich in der Praxis
erweisen und kann sicher nicht vor Ende 2019 valide beurteilt werden.
Weitere verfahrensrechtliche
Neuerungen ergeben sich im Berichtswesen, allerdings hat sich der anfängliche
„Schrecken“ des abzugebenden Teilhabeverfahrensberichts gelegt. Aufwand und
Auswirkungen für die einzelnen Kommunen halten sich in Grenzen.
In der dritten Stufe sind erhebliche Auswirkungen auf unsere
Verwaltung zu erwarten. Die Umsetzung bis zum Ende dieses Jahres ist
hochambitioniert!
Merklich wird sich der Kreis
der Anspruchsberechtigten durch grundlegende Änderungen bei der Einkommens- und
Vermögensanrechnung erhöhen, auch auf der Einnahmeseite ist mit Ausfällen zu
rechnen.
Bedeutsamer ist aber die
Trennung der Fachleistungen der Eingliederungshilfe und der existenzsichernden
Leistungen. Dies bedeutet, dass die Fallkonstellationen, die bisher in stationären
Einrichtungen untergebracht waren, zukünftig den Regelbedarf (zzgl. eventueller
Mehrbedarfe) und die Kosten der Unterkunft als Sozialhilfe (also vom Fachdienst
312) erhalten. Fachliche Leistungen werden aufgrund der Ergebnisse der
Hilfeplanung vom FD 311 gewährt. Diese Schnittstelle wird eine enorme Herausforderung
sein, rechtlich, arbeitsorganisatorisch und EDV-technisch.
Beispiele für praktische
Probleme im Einzelfall:
-
Festlegung der angemessenen KdU (Rest ist ggf. Fachleistung)
-
Was ist mit Nachforderungen/Guthaben aus Heiz- und
Nebenkostenabrechnungen?
-
Was zählt zur KdU (Zimmer/Gemeinschaftsflächen/Küche
usw.)?
-
Was gehört zum Lebensunterhalt (Verpflegung: Ja /
Gemeinsam zubereitetes Essen: Nein, weil Fachleistung)?
Diese Aufzählung ließe sich
nahezu endlos fortsetzen.
Problematisch kann auch die
damit verbundene Abkehr vom „Bruttoprinzip“ werden:
Bisher hat der FD 311 die
„Heimkosten“ in voller Höhe an den Einrichtungsträger überwiesen. Einkommen und
Unterhaltsansprüche wurden auf uns übergeleitet und vereinnahmt.
Ab 2020 ist das Einkommen der
Leistungsberechtigten zunächst auf den Lebensunterhalt anzurechnen. Um diesen
Betrag gemindert werden die existenzsichernden Leistungen (Sozialhilfe)
bewilligt und gezahlt. Wenn die o.g. (interne) Schnittstelle funktioniert,
bekommt das „Heim“ (neu: Besondere Wohnform) den Rest vom FD 311.
Die Einrichtung erhält „ihr“
Geld ggf. von drei oder mehr Stellen. Ob dies von den Anspruchsberechtigten
(und ggf. ihren Betreuern/innen), die Ihr Einkommen einzusetzen haben, auch
durchschaut wird, bleibt abzuwarten. Zu befürchten ist aber, dass der FB
Soziales im Eskalationsfall als „Ausfallbürge“ Forderungen des Anbieters der
Besonderen Wohnformen auszugleichen hat.
Personell verlagert sich (der
in der Summe zumindest gleiche) Arbeitsumfang von der Sachbearbeitung des FD
311 in den FD 312. Derzeit geht die Verwaltung von der Umsetzung einer
Vollzeitäquivalenz aus.
Die vierte Reformstufe (2023) dürfte in der Praxis des
Landkreises Nienburg als örtlicher Sozialhilfeträger weniger relevant sein.
Finanzierung/Zuständigkeit:
Seit einigen Wochen gilt als
gesichert, dass die fast 2 Jahre andauernde „Hängepartie“
um die Zuständigkeit des örtlichen (=Landkreis) und überörtlichen (=Land) Sozialhilfeträgers
ein Ende findet. Das Land hat sich zum teilweisen Ausgleich der finanziellen
Verwerfungen bei Umsetzung der schon lange für alternativlos eingeschätzten Zuständigkeitsregelungen
bereit erklärt. Seitens des Landkreises Nienburg verbleibt unter Betrachtung
der Zahlen von 2015-2017 ein Fehlbetrag von ca. 290.000 €. Diese
vergleichsweise geringe Einbuße um Jahr 2020 ist aus Sicht der Verwaltung hinnehmbar,
da der Landkreis Nienburg angesichts der demographischen Perspektiven bereits
relativ kurzfristig vom Zuständigkeitsübergang aller über 18jährigen zum Land
profitieren dürfte.
Unbefriedigend ist auch für
den Landkreis Nienburg, dass die ebenso lange im Streit befindliche Regelung
der Konnexität nur unzureichend gelöst wurde. Das Land erkennt die Erstattung
von Personalkosten auf der Grundlage von 1:150 (unter Berücksichtigung aller
Professionen) an, was alle Praktiker als illusorisch bewerten. Hinsichtlich der
Implementierungskosten von (aufgrund der Landesvorgaben hinsichtlich BENi
erforderlichen) Lizenzen sowie Softwaremodulen und –schulungen, die von
kommunaler Seite eingefordert werden, hat das Land bisher keine Zugeständnisse
in Aussicht gestellt.
Zu guter Letzt:
Das Land Niedersachsen ist
das einzige Bundesland, das noch kein Ausführungsgesetz auf den Weg gebracht
hat. Neben der dadurch noch bestehenden Rest-Unsicherheit hinsichtlich der
Zuständigkeit (die dort zu regeln wäre), ergeben sich dadurch weitere
Regelungsbedarfe, die bis zum Inkrafttreten der 3. Reformstufe am 01.01.2020
schon jetzt kaum noch zu realisieren sein werden.
Davon hängt letztlich auch
ab, wer in welcher Form die ab 2020 anzuwendenden Verträge mit den Anbietern zu
schließen hat. Hinsichtlich der neuen „Besonderen Wohnformen“ bedeutet dies
unter Verweis auf die Trennung der Fach- und existenzsichernden Leistungen,
dass man nicht unbedingt davon ausgehen kann, dass in Niedersachsen die 3.
Reformstufe pünktlich zum 01.01.2020 umzusetzen sein wird.
Die Verwaltung geht davon aus,
dass man sich in einer Übergangszeit mit der Weitergeltung der bestehenden
Verträge behelfen muss, was bei der Umstellung im Verlauf des Jahres 2020
unnötige Umstellungs- und Nacharbeiten nach sich ziehen wird.
Finanzielle
Auswirkungen:
Die finanziellen
Auswirkungen können im Einzelnen noch nicht beziffert werden, finden aber
Eingang in die Haushaltsplanungen des Jahres 2020.
Anlagen:
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